«Mehr als ein Hobby nach Feierabend»

Sie war in Gondo und hat unter den Trümmern nach einem Kollegen gesucht. Sie hat in Japan erlebt, wie ein Einsatz unter ständiger Lebensgefahr die Menschen trotzdem stärken kann. Denise Affolter hat ihre Liebe zu Hunden und ihr Engagement für die Rettung zum Beruf gemacht. Ihr Leitsatz auch in grössten Naturkatastrophen: Es gibt keine Probleme, sondern nur Herausforderungen. Und Lösungen dafür.

Interview: Dagmar Wurzbacher
Fotos: Raphael Falchi

 

Als Einsatzleiterin der Regionalgruppe REDOG Wallis sind Sie eine der Ersten, die gerufen wird, wenn Hunde bei einer Katastrophe gebraucht werden. Haben Sie Ihr Handy ständig auf dem Nachttisch, Denise Affolter?

Denise Affolter (lacht)
Ja, das ist bei allen Einsatzleiterinnen und Einsatzleitern der Fall.

 

Denise Affolter ist Präsidentin, Einsatzleiterin und Ausbildungsverantwortliche der REDOG-Regionalgruppe Wallis. Es ist nicht unüblich, dass sie mehrere Tage hintereinander für REDOG arbeitet. Ehrenamtlich. Die REDOG Freiwillige hat ihre beiden Hobbies, die Liebe zu Hunden und ihr Engagement für Rettung, zudem zum Beruf gemacht: In der Kantonsverwaltung ist sie die Ansprechperson für alles, was mit Hunden zu tun hat, mit den folgsamen und den weniger folgsamen. So muss sie beispielsweise mit Hundehaltern über den Vorgang eines Bissvorfalles reden und die notwendigen Massnahmen treffen, damit ein solcher Vorfall in Zukunft verhindert werden kann. Im Zivilschutz bildet sie Pioniere aus und stellt ihr Know-how als Einsatzleiterin REDOG zur Verfügung. Und in ihrer Hundeschule wirbt sie für Nachwuchs für die Freiwilligenorganisation.

Welcher Alarm ist Ihnen in bleibender Erinnerung geblieben?

Denise Affolter
Das war nicht nur einer, das waren zwei. Einer quasi vor der Haustür, der Erdrutsch in Gondo, im Oktober 2000. Und der Tsunami in Japan, 2011. Gondo war emotional ein sehr intensiver Einsatz, denn dort wohnten Menschen, die ich kannte, sehr gut sogar. Unter den Verschütteten war ein Mitglied unserer Regionalgruppe Wallis, mit seiner Familie. Jemand, mit dem einen sehr viel verbindet. Untypisch war auch die Schnelligkeit, mit der wir am Einsatzort sein mussten. Dass wir mit dem Helikopter abgeholt werden, ist sehr selten.

Beim Einsatz in Japan überschlugen sich die Informationen. Alarm wurde am Abend um 19 Uhr ausgelöst. Zuerst hiess es „Go“, zwei Stunden später „Nein, wir gehen nicht…“ Und so ging es weiter, bis früh in den Morgen. Dazwischen habe ich mein Privat- und Berufsleben organisiert, Betreuung für die Tiere, packen, Termine, Schulungen.

 

Wie haben Sie diese Katastrophen erlebt?

Denise Affolter
In Gondo war uns von Anfang an bewusst, dass wir uns in einem sehr gefährlichen Einsatzgebiet befinden, nass, rutschig, in dem jederzeit noch weitere Hänge abrutschen konnten. Doch sobald die Suche begann, sobald wir unsere Aufgabe ausführen konnten, kamen die Ruhe, die Klarheit und die Stabilität, die es braucht, um mit dem Hund zusammen die Arbeit umzusetzen und für die wir so intensiv trainieren. Und das Wertvolle daran ist, zu erfahren: Doch, es funktioniert im Ernstfall, was man in all den Jahren gelernt und geübt hat.

Im Gegensatz dazu Japan. Klar hatten wir bei der Alarmierung vernommen, dass ein AKW betroffen ist. Doch das geriet in der Vorbereitung fast in Vergessenheit. Als im Hangar von Kloten jedoch ein Arzt der REGA Jodtabletten verteilte und uns einschärfte, sie immer bei uns zu tragen und auf sein Kommando zu schlucken, wurde uns erst der Ernst der Lage bewusst. Und als bei der Ankunft die Erde bebte, war die Bedrohung schlagartig da: Wir sind in einem Land, das mehr Erdbeben kennt als die Schweiz.

In beiden Fällen war es trotz dem Ernst der Lage schön zu erleben, wie man innerhalb eines Teams stärker wird, wenn man das Wissen hat, wie man helfen kann. Meine Ausbildung im Peer-Debriefing hat mir enorm geholfen, meine Kolleginnen und Kollegen darin zu unterstützen, mit dem Einsatz besser umzugehen.

 

Können Naturkatastrophen wie Gondo in der Schweiz jederzeit passieren?
(Bemerkung: Dieses Interview wurde vor dem Bergsturz in Bondo im Sommer 2018 geführt. Damals starb eine Wandergruppe mit acht Mitgliedern in den Trümmern. REDOG war im Einsatz.)

Denise Affolter
Natürlich. Die Kantonsregierung hat zum Beispiel Erdbeben als höchste Gefahrenquelle im Wallis definiert. Laut dem hundertjährigen Kalender ist ein Erdbeben überfällig und wäre deshalb jederzeit möglich. Aber auch ein Erdrutsch kann immer eintreten, Felsstürze, Sturmschäden und Murgänge hat es seither mehrere gegeben. Wir stellen eine Tendenz fest, dass sich mehr Gelände bewegt. Obwohl gesprengt wird und Vorkehrungen getroffen werden, verunglücken mehr Menschen in Lawinen. Wenn es innerhalb kurzer Zeit viel regnet, treten Flüsse und Bäche über die Ufer. In der Folge der Klimaveränderung und dem Rückgang der Gletscher wird sich das in nächster Zeit verschärfen.

 

Bedeutet jede Naturkatastrophe auch ein Einsatz für die Verschütteten-Suchteams?

Denise Affolter
Nicht bei jeder Naturkatastrophe sind Menschen betroffen. Und es gibt Naturkatastrophen, wo wir kaum helfen können. Bei Überschwemmungen sind die Überlebenschancen praktisch null. Ein Alarm erfolgt hingegen bei Erdbeben, Steinschlag oder Erdrutsch.

 

Wie schnell können Sie mit einer Equipe vor Ort sein?

Denise Affolter
Innerhalb von zwei bis vier Stunden sind wir mit einer Erstequipe überall in der Schweiz vor Ort. Dies ist dank unserer regionalen Verankerung möglich. In 12 Regionalgruppen decken wir die ganze Schweiz ab. Einsatzfähige REDOG-Mitglieder sind generell auf Pickett.

 

Wer Mitglied ist bei REDOG, hat sich für mehr als ein Hobby nach Feierabend entschieden. Die intensiven Trainings mit dem Partner Hund finden mehrmals in der Woche statt. Am Wochenende kriechen die Katastrophenhunde-Führerinnen und -Führer mit ihren Hunden unter Trümmer, seilen sich in Liftschächte ab und üben den Ernstfall auf Werkhöfen von Recyclingfirmen, Abbruchobjekten, Kieswerken. 

Die Ausbildung der Hunde dauert drei bis vier Jahre. Doch damit ist es nicht getan. Jede Woche trainieren Sie einen Abend und am Wochenende, zum Beispiel auch in einer Genfer Recyclingfirma. Was ist daran so faszinierend, seinen Sonntag im Abfall von Genf zu verbringen?

Denise Affolter
Es ist das „Aha-Erlebnis“ mit dem vierbeinigen Partner, seine enorme Riech-Fähigkeit, seine Kooperation, sein Engagement und sein Durchhaltewillen. Das Wissen, dein Hund ist fähig mit dir als Hundeführerin zusammen, einen Menschen zu finden. Die Gewissheit, auch in schwierigen Situationen auf ihn zählen zu können. Der Puls von REDOG schlägt mit den Hunden und damit bei den vermissten Menschen.

 

Zum Einsatz im Ernstfall ist zugelassen, wer drei bis vier Jahre trainiert und die anspruchsvollen Prüfungen bestanden hat. Freundschaften werden im Verein gepflegt, Partner sind nicht selten Vereinsfreunde – oder zumindest ebenso vernarrt in Hunde. Im Notfall steht eine Equipe von zwei bis vier HundeführerInnen, einem Equipen- und/oder EinsatzleiterIin sowie SpezialistInnen der Technischen Ortung innerhalb von zwei Stunden bereit, ein vermisstes Kind zu finden oder einen dementen, kranken Menschen, der sich verirrt hat. Freiwillig, ehrenamtlich, engagiert.

Wie gewährleistet es eine Regionalgruppe, eine genügende Anzahl Suchteams auszubilden?

Denise Affolter
Die Strategie steht und fällt mit den Leuten an der Spitze. Wir haben in unserer Regionalgruppe einen Präsidenten, der sehr gut vernetzt ist und die Zusammenarbeit mit den Medien und den Gemeinden sowie mit den Partnerorganisationen in der Walliser Rettungskette pflegt. Im Moment haben wir Interessierte für die vier Sparten – Gelände- und Katastrophensuchhund, Mantrailing sowie Technische Ortung.

 

Es wird uns nie gelingen, Katastrophen zu verhindern. Aber wir können uns darauf vorbereiten. Wie hat sich die Katastrophenhilfe verbessert?

Denise Affolter
In der Katastrophenvorsorge hat sich einiges getan: Bächen wurde ihr ursprünglicher, natürlicher Verlauf zurückgegeben. Als Schutz vor Überschwemmungen wird das Rhonebecken verbreitet. In den Bergen sind an stark exponierten Stellen Sensoren installiert, die kleinste Bewegungen im Fels registrieren und alarmieren. Geplante Bauzonen wurden wieder ausgezont.

Zudem sind die Rettungsorganisationen in der Zusammenarbeit professioneller geworden. Im Wallis beispielsweise koordiniert die KWRO, die kantonale Walliser Rettungsorganisation, die Zusammenarbeit der verschiedenen Organisationen.

Doch es mussten Katastrophen eintreten, damit sich das Bewusstsein in der Gesellschaft ändert. Und es wird – leider – noch mehr Katastrophen brauchen.

 

Mit Ihrer Spezialausbildung im Zivilschutz sind Sie in zwei Organisationen „zuhause“ und sichern damit auch die Zusammenarbeit. Wie unterstützt REDOG den Zivilschutz?

Denise Affolter
Durch die Ernsteinsätze im In- und Ausland hat REDOG ein Wissen im Gelände und in realen Situationen erlangt, welches für die internen Weiterbildungen immens wichtig ist. Wir können dem Zivilschutz wie auch anderen Partnern, die nicht über solche Einsatzmöglichkeiten verfügen, einen Einblick in möglich eintretende Situationen geben. Wir unterstützen unsere Partner bei der Beratung, der Vorbereitung, beim Aufbau und der Durchführung von einsatzbezogenen Übungen, sei es individuell, im Rahmen einer Grosseinsatzübung oder bei Einsätzen. Dabei greifen wir auch auf Know-how von ausgebildeten Ingenieuren in Trümmerstatik zurück.

Dank meinen Ausbildungen (Instr. Ustü, Zfhr Ustü und Equipenleiterin) kenne ich die Fähigkeiten und Bedürfnisse beider Organisationen im Gelände. Im Übrigen bin ich die erste und nach wie vor einzige Frau im Zivilschutz, welche den Lehrgang ‚Instruktorin‘ im Bereich ‚Unterstützung (Pionier)‘ vom BABS erfolgreich absolviert hat.

 

Die Hundenase steht im Mittelpunkt der Suche. Doch sie allein genügt manchmal nicht. Was steht Ihnen an technischen Hilfsmitteln zur Verfügung?

Denise Affolter
Unterstützung erhalten wir bei der Verschüttetensuche von der Technischen Ortung, die mit zwei Hilfsmitteln arbeitet: der Kamera mit Teleskopauszug und dem Abhorchgerät, das über hochsensible Sensoren verfügt. Sie bestätigen, was der Hund herausgefunden hat. Sie analysieren die Struktur unter den Trümmern. Sie geben den Rettungsteams einen Hinweis, welcher Zugang zu der vermissten Person ratsam ist. Dies garantiert Sicherheit für die Rettungsteams und die Menschen unter den Trümmern. Beide Hilfsmittel können Kontakt zu der verschütteten Person herstellen, da sie über Mikrofone verfügen. Sie ermöglichen den Sanitätern eine erste Bestandsaufnahme. Im Gespräch mit der verschütteten Person können sie sie beruhigen und Erste Hilfe leisten.

Technische Ortung kommt auch dann zum Zug, wenn das Gebiet erst noch abgeklärt werden sollte, weil zum Beispiel gefährliche Stoffe ausgetreten sein könnten: Radioaktivität in einer Arztpraxis oder giftige Lacke in einer Firma.

In der Vermisstensuche ist die Wärmebildkamera (FLIR) ein gutes ergänzendes Instrument. Sie erleichtert es uns, in der Dämmerung und Dunkelheit Menschen zu finden. Allerdings funktioniert dies nur mit direktem Kontakt zur Wärmequelle.

 

Sie tragen eine grosse Verantwortung. Sie trainieren, um Menschen zu retten. Nicht immer werden Opfer jedoch lebend geborgen. Wie verarbeiten Sie eine solche Belastung?

Denise Affolter
Wir werden immer zu Schadenplätzen gerufen, an denen Schlimmes passiert ist. Ich setze mich deshalb seit 14 Jahren, speziell seit meinen Erfahrungen in Japan für einen professionellen Umgang mit Stresssituationen ein. Bereits in ihrer Ausbildung müssen die Menschen im Rettungswesen lernen, welche Auswirkungen eine solche Situation auf ihre Psyche hat, wie sie reagieren könnten und wie sie ihre Stresssituationen bewältigen. Das kann man lernen.

Für mich als Equipenleiterin ist es sehr wichtig, dass sich mein Team bewusst ist, was ihnen gut tut, was ihnen Stabilität verleiht. Das fängt schon Zuhause bei der Alarmierung an. Während des Einsatzes wäre es vorteilhaft, wenn eine Person aus dem Team in der Funktion Peer im Hintergrund steht, die Kolleginnen und Kollegen beobachtet und unterstützend eingreift, sollte jemand Stressreaktionen zeigen. Ziel dabei ist, dass die Kollegin oder der Kollege die Selbstkontrolle wiedererlangt und im Einsatz bleibt.

Nach dem Einsatz ist unter Umständen ein Gruppen- oder Einzeldebriefing wichtig. Für Traumas nach einem Einsatz, und diese können leider nicht verhindert werden, steht uns eine professionelle psychologische Beratung zur Seite.